Vor der Abfahrt
  • 3 ½ Tage, 4 Nächte, 3 Konzerte, 3 Ausstellungen, 3 Theaterstücke, 3 Mal Full English Breakfast, Fotos, Menschen, Bilder: London intensiv. (aber es nicht nicht die Zahlen, die das Erlebnis machen.)
Donnerstag. 22. 8.

Zum Glück habe ich gestern Plätze im Zug reserviert, man hat das Gefühl, dass heute alle unterwegs sind. Auf dem Bahnsteig streitet sich eine Familie lautstark, haut sich, lacht miteinander, gleichzeitig. Sie sind nach Hamburg unterwegs, nicht nach Köln. Hier im Zug ist es friedlich, man liest und schreibt, manche gucken raus. Im Eurostar ist es kalt, also Jacke anziehen, Kapuze drüber, heiße Gedanken oder heiße Musik.

Beim Auspacken stelle ich fest, dass ich die SD Karte für die Nikon zu Hause habe liegen lassen. Aber in Zeiten von Google maps ist das kein Problem: Der nächste Foto- und Computerladen liegt nur 800 m entfernt, dort gibt es alles, auch ’ne schnelle und neue Karte, rein in den Foto und zurück. Wenn alle Schwierigkeiten sich so schnell lösen ließen!

Die Proms heute Abend: drei mir unbekannte Stücke:

Dorothy Howell, Lamia
Edward Elgar, Cello Concerto in E minor
Oliver Knussen, The Way to Castle Yonder
Mieczysław Weinberg, Symphony No. 3

Besonders  Mieczysław Weinberg lohnt sich: Sehr farbig, sehr emotional, und klasse dirigiert von Mirga Gražinytė-Tyla, die schon in Heidelberg engagiert war und nun (vielleicht) Karriere macht.

Ein tolles Konzert, einige im Publikum wissen aber nicht so recht, was das für eine Veranstaltung ist.

Freitag,23. 8.

Proms: Bruckners 8. Sinfonie kann man sich als eine Kathedrale vorstellen, bei der alle Teile nach Maß und und Form miteinander harmonieren, was man auch dann bemerkt, wenn man keine Partitur vor sich liegen hat. Das Gewandhausorchester Leipzig spielt die Sinfonie mit analytischer Wärme, mit atemberaubenden Pianissimo-Stellen, die alle sehr heikel sind, und strahlenden Fortissimos. Es hat sich gelohnt, dass ich früh aufgestanden bin für ein Ticket in der ersten Reihe (Stehplatz).

Globe: »Was gefällt euch?« fragt Shakespeare sein Publikum.
Prügeleien, Verkleidungen, Parodien, Zoten, Kalauer, Liebesgeschichten, Verwirrungen, das alles gefällt dem Publikum, damals wie heute, und das alles bietet Shakespeare seinem Publikum und setzt durch  seine Geschichte noch eines drauf: Ein Mann spielt eine Frau, die einen  Mann spielt, der eine Frau spielt, und der Mann, der eine Frau spielt, ist total verliebt in eine Frau, die von einem Mann gespielt wird, der ein Frauen-Abgewöhn-Spiel anzettelt – und natürlich scheitert. Wollen wir das glauben? Nein, wir brauchen es nicht zu glauben, es ist einfach so. Alles ist Theater, alle spielen irgend wie mit:

All the world’s a stage,
And all the men and women merely players; (II,7)

nicht nur die Schauspieler oben auf den Brettern in ihren Rollen, sondern die Zuschauer, die ihre Rollen im Leben und im Theater nicht immer kennen, denen man sie aber leicht erklären kann. In der Schäferszene treibt der Schäfer seine Schafe nicht nur oben auf der Bühne mit dem Stab auf den richtigen Weg, sondern auch die Groundlings, die direkt an der Bühne stehen. Und als die Rede auf den Text des Stückes  kommt, »to like as much of this play as please you«, nimmt Rosalinde mein Buch, das auf der Bühnenkante liegt, und wirft es in hohem Bogen ins Publikum. Nichts ist sicher – oder doch? Bei der »Scheinhochzeit« von Orlando und Rosalinde wirft nach altem Brauch die Braut den Strauß aus Gewürzpflanzen rückwärts ins Publikum, wo ihn ein junger Mann geschickt auffängt, und seine Liebste, die er ihm Arm hält, innig über den Po streichelt und zärtlich küsst! Ob nicht die Liebe doch  ein vernünftiger Wahnsinn ist? Wie es euch gefällt!

Verwandlung, Verkleidung, Rollenspiel. In der Ausstellung von Werken von Cindy Sherman in der Portrait Gallery kann man sehen, dass sie immer wieder nur sich selbst fotografiert: Durch die unterschiedlichen Rollen, durch Schminke, Kleidung und Gesten evoziert und im Labor intensiviert, kann man erkennen, wie fragwürdig, ja falsch und unangemessen einfache Zuschreibungen und Etiketten sind.
Und man kann lernen, dass man mit Fotos viel Geld verdienen kann: Für The Complete Film Stills  hat das MoMa eine Million Dollar bezahlt. Wenn das Gülay erfährt!

Samstag, 24. 8.

Liz Johnson Artur Bilder stehen im äußersten Kontrast zu den Bildern Cindy Shermans. Ihre Fotos, in einer Ausstellung in der South London Gallery gezeigt,  dokumentieren das Leben von Schwarzen aus der ganzen afrikanischen Diaspora. Ihre Arbeiten zeigen die »normalen, die lebendigen, auch subtilen« Nuancen des Menschenleben.
Sie scheint spontan zu fotografieren, im Zentrum stehen immer die Menschen und ihr Leben, ihre Sehnsüchte und ihre Hoffnungen auf ein sinnvolles Leben. Ihre Bilder werden in der South London Gallery gezeigt, in einer Gegend, in die sich kaum Touristen verlieren.

Hier fand ich um ersten Mal Motive, die das andere London zeigen: Die Armut, den vergangene Glanz, den Verfall.
Und ich bin auf Menschen getroffen, die mich fasziniert haben: keine Models fürs Glanzportfolio, keine Posen, eher Fragen, Unsicherheiten.
Liz Johnson Arthur hat im Kontext des Lebens fotografiert, ich musste mich auf das Porträt beschränken und hoffe, dass die Bilder (an)sprechen.

The Comedy of Bank Robbery Bankrobbery im Criterion Theatre im West End: Ein irrwitzige Komödie, perfekt gespielt. Man lässt keinen Kalauer, keine Verwechselung, kein Klischee aus, spielt mit rasendem Tempo, sodass dem Zuschauer Hören und Sehen vergeht, man klettert durch das Bühnenportal, fällt runter (weich), dazu singt und tanzt man und schiebt das  noch das Bühnenbild zurecht, eine geniale Konstruktion, die in wenigen Sekunden z. B. das Büro in ein Schlafzimmer verwandelt. Auch wenn ich die Insider- und Dialektwitze nicht verstanden habe: Es war ein unbändiges Vergnügen.

Zum Abschluss Proms
Silvestri: Three Pieces for strings (hm?)
Prokofiev, Klavierkonzert Nr. 2  (Teufelszeug!)
Rachmaninov, 2. Sinfonie  (2. und 3. Satz sind meine Favoriten!)
Ein passender Abschluss des Tages.

Sonntag, 25. 8.

Westminster Abby mit Eucharist, sola gratia, und gratis das schöne Maßwerk angucken, aber ohne Blick auf die Gräber von Händel, Shakespeare und Chaucer (Keine Besichtigungen am Sonntag; am Montag kann man für 25 £ wieder rein), dafür aber Gottesdienst mit Video-Leinwand, die das Geschehen im Hauptschiff auch den frommen Seelen in den Querschiffen zeigt. Der Chor wird leider von der Orgel übertönt, an unserem Platz kommt nur ein allgemeines Chorklanggematsche an. Schade, denn die »Messe solennelle« von Langlais kenne ich nicht, was sich nun dank spotify leicht ändern lässt.

Photgraphers’ Gallery mit Politik, ober ohne Katalog, der mindestens 4 kg wiegt und deswegen nicht mehr in den Koffer passt. Urban Impulses: Latin American Photography From 1959 to 2016.

Aus der Ankündigung:

Die Ausstellung bietet eine Vielzahl künstlerischer Ansätze, von Straßendokumentationen bis hin zu Collagen, und zeichnet eine Konstellation bedeutender historischer Ereignisse nach, die die Region geprägt haben: die kubanische Revolution, Militärdiktaturen in Argentinien, Brasilien, Chile und Paraguay sowie soziale Massenbewegungen in immer noch nicht konsolidierten Demokratien der Unterdrückung gewichen sind.

Täglicher Widerstand gegen Unterdrückung war ein Teil der Agenda vieler Künstler in der Ausstellung, und Aktivismus sowohl im künstlerischen als auch im politischen Bereich hat sich in und durch die Räume der städtischen Straße manifestiert.

Diese Ausstellung bildet einen wichtigen Kontrapunkt zur dominanten westlichen und nordamerikanischen Geschichte der Fotografie. Die lateinamerikanische Identität ist ein Paradoxon der Vielfalt (Hilfe, was ist?): Jedes Land hat seine Besonderheiten, aber die meisten von ihnen haben mit den widersprüchlichen Behauptungen von Nationalismus und Regionalismus zu kämpfen, angesichts der ständigen Versuche der Länder der Ersten Welt, sich kulturell und wirtschaftlich zu besiedeln.

Es hat sich gelohnt!

Shakespeare Globe,  Midsummer night’s Dream: knallbunt und schrill, aber hallo: Hier kann man 35 Sekunden sehen:

Enjoy!

Die Welt ist auch so!
Ist die Welt auch so?
So ist die Welt auch!
Auch so ist die Welt!

Montag, 26. 8

Heimreise mit vielen Ideen im Kopf und Personen im Gleis: So ist die Welt.