Judas Blog

So lange habe ich nicht mehr geschrieben, so viel ist in der Zwischenzeit passiert, so vieles ist zu berichten, so wenig Zeit ist geblieben: Corona hat alles zerrüttet. Wir sind ein Jahr später, nach dem ersten Lockdown. 6600 KM auf dem E-Bike später, mit dem Text im Kopf, mit den Gefühlen im Bauch. Jetzt will ich spielen, eher heute als morgen, jetzt ist alles bereit, bis auf die Proben in der Kirche.
Wir hatten schon mehrere Durchläufe, einmal mit einem Zuschauer: Ich weiß oder ahne zumindest, wie es sich anfühlt, wenn ich eine Stunde spiele.

Und dabei hätte ich beinahe hingeschmissen, zu anspruchsvoll das Stück, zu lang der Text, zu schwierig die Sprache. Renata hat es aufgefangen, hat mit ermutigt und Judas am Leben erhalten.

»Es geht darum zu versuchen, den Schmerz und das Trauma der jeweiligen Figur, also die Personalisierung des Schmerzes und des Traumas zu übernehmen, um die Wahrheit einer Figur zu ergründen und dabei vor allem diese Informationen zu benutzen, um mit ihnen die eigenen Fähigkeiten zu stärken und zu gewinnen.«

Das sagt Ivana Chaback, auf die mich Renata hingewiesen hat. 

Was ist das Gesamtziel von Judas?

Will er Absolution, Verständnis, Erklärung? 
Er sagt am Ende: »ICH bin Judas«. Auf diesen Satz läuft alles hinaus. Hier spricht er seinen Namen zum ersten Mal aus, klar und deutlich,  wiederholt ihn. Was war es für ein langer Weg, bis es so weit gekommen ist. Und immer wieder bricht seine Traurigkeit durch, dass ihn der verehrte, geliebte Mensch, für den er Familie und Dorf verlassen hat, einen anderen Weg ging.  

Heute bin ich durch den Text durch: Alle Striche sind angebracht, die Abschnitte zusammengefasst. Ich bin zuversichtlich, dass ich es schaffen könnte – wenn die Zuversicht nicht zum Schlendrian führt. Es sind 20 Seiten A5, 4500 Wörter – 2000 gestrichen. Ich werde das mal mit der Uhr lesen: 60 Minuten reiner Text, dazu die Musik.

Gestern bin ich zum ersten mal durch den Text gegangen, soweit er schon bearbeitet ist. 35 Minuten, auf dem Weg zum Goldknöpfle und zurück. Es ist noch viel zu tun, aber ich ich bin zuversichtlich. Ich habe auch eine Vorstellung davon, wie es auf der Bühne aussehen könnte.

Ich habe das Gefühl, dass ich es schaffen kann: Text-Lernen geht gut voran, ich habe einige Passagen schon im Kopf, die Übergänge sind mir auch schon (meist) präsent, ich verstehe die Stimmung, kann mir das alles gut als Szene vorstellen. Ich wundere mich, dass ich (gefühlt) schneller lerne als bei Petrarca. Am Alter kann es nicht liegen!

Immerhin spielt das Alter auch eine Rolle: Im Kammerchor haben wir über Ziele des Chores, Erscheinungsbild, Stimmqualität gesprochen: soll es eine eine Alters-Obergrenze geben? Die läge für mich nicht mehr so weit weg. Ich weiß: Das ist die Realität. Nach 30 Jahren habe ich ja auch schon ’ne Menge gesungen und erlebt.

Also: »Judas« kommt zur rechten Zeit.

Ich habe Klaus Gaßner angefragt, ob er sich vorstellen könnte, mit der Orgel die Aufführung zu begleiten. Er findet die Idee gut, möchte mit mir darüber reden. Das ist doch ein guter Anfang.

Ich bearbeite den Text: Im Original sieht er aus wie eine Litanei, bei der ich mir nicht vorstellen wann, wie man das lernen soll. Ich fasse Sinnabschnitte zusammen, gliedere, kürze und unterteile den Text in Kapitel.

Ich fange gleich an. Ich habe schon angefangen, aber gleich fange ich richtig an. Bevor ich anfange, muss ich erklären, warum ich eigentlich anfangen will.
Der erste Anfang liegt im Dunkeln, vielleicht war es Goethe mit opus 5 plus, oder doch Shakespeare mit seinen Opern, oder die Petrarca-Aufführung mit Cantiqua? Wenn man die Reihe der Personen, die ich gespielt habe, weiter zurückgeht, kommt man irgend wann bei Jesus an. Nein, den wollte ich nun doch nicht spielen.
Ist es die Lust am Mummenschanz, an der Lust, das zu sagen, was ich nicht anders sagen könnte, weil es zu verrückt ist –  oder zu wahr, dass es niemand glauben will. Oder die Angst vor der Leere des Tages, der Woche, des Monats, die durch die Arbeit an einem Text, an einer Szene vertrieben wird? Oder das Interesse an einem Thema,  das ich schon seit Studienzeiten kenne: Judas-Roman von Walter Jens?
Zum ersten Mal sah ich den Judas am Badischen Staatstheater, kurz vor Weihnachten, im März habe ich mich um die Aufführungsrechte bemüht – und sie bekommen; ich habe Aufführungen gesehen in Mannheim, Stuttgart und München. Bei jedem Besuch wuchs die Faszination, das Stück zu spielen und der Respekt vor dem Text. 75 Minuten, keine Pause, ein Monolog! ob ich jetzt schon verzweifeln soll?
Es wurde mir klar: Es geht nicht ohne professionelle Hilfe.  Renata Messing, mit Bildern im Kopf und sensiblen Ohren für die falschen Töne. Wir vertrauen einander. 
Gleich fange ich richtig an.